Hippologisches Seminar Mitte


Einsichtsvolles Verhalten bei Pferden

Marcello Pocai

Obwohl in den letzten Jahren vor allem in der Freizeitreiterszene der "pferdegerechte" Umgang, die "artgerechte" Haltung, alternative Reitweisen diskutiert, Heiltechniken aus der Humanmedizin aufs Pferd übertragen werden, hinkt die Grundlagenforschung, insbesondere was die intellektuellen Fähigkeiten des Pferdes betrifft, auffallend hinterher. Das liegt zum einen daran, daß es keineswegs common sense ist, den Pferden echtes intellektuelles Potential zuzugestehen, und das liegt zum anderen an der Schwierigkeit, daß wir, um gesicherte Erkenntnisse hierüber gewinnen zu können, auf Beobachtungen angewiesen sind, die wir interpretieren und verstehen müssen. Die Verhaltensforschung ist hier zu nennen: sie macht vor allem, etwa in Studien zum Verhalten freilebender Pferde, Aussagen zum Instinktrepertoire der Tiere. Sie stellt auch Untersuchungen an Hauspferden unter Versuchsbedingungen an, ermittelt werden Verhaltensmuster, die sich unter Bedingungen der Gefangenschaft ergeben. Hierzu gehören Intelligenztests, sie zeigen (wobei am Ende immer die Belohnung mit Futter steht) eine zugleich beschränkte und hochspezialisierte Begabung der Tiere, sich affektiv gebundene Eindrücke so stark einzuprägen, daß auch nach Jahren mit dem erinnerten Reiz der Affekt wiederkommt.
In unserem täglichen Umgang und in der täglichen Arbeit mit dem Pferd tauchen neben bekannten "Standardsituationen" auch immer wieder einmal außergewöhnliche Situationen auf, in denen uns das Pferd mit diesem oder jenem Verhalten oder mit dieser oder jener Reaktion überrascht. Dabei muß das Verhalten des Tieres überhaupt nicht spektakulär sein: wir verstehen nur nicht auf Anhieb, was eigentlich passiert ist. In jüngerer Zeit gibt es eine Vielzahl von Publikationen, die etwa unter dem Titel "Wie verstehe ich mein Pferd?" das Thema angehen. Leider ist aber meist das dem Verständnis zugrundeliegende Pferdebild veraltet und sehr einseitig ausgerichtet. Gerade im Zusammenhang mit Umgang und Ausbildung des Pferdes werden das Pferd und sein Verhalten als ein quasi maschineller Funktionszusammenhang beschrieben. Der Reiter sendet einen bestimmten Reiz aus, und das Pferd zeigt auf diesen Reiz eine bestimmte Reaktion. Diese Reaktionsfähigkeit des Pferdes macht sich zwar jeder Ausbilder zunutze, bedenklich wird es aber, wenn das Tier bedingungslos auf einen solchen Reiz-Reaktions-Mechanismus festgelegt wird, wie man es bei einigen Formen des Westernreitens beobachten kann. Bedenklich ist das deswegen, weil das Pferd, wenn es nur auf den Reiz oder anders gesagt: den bedingten Reflex festgelegt wird, in seinen Ausdrucks- und Verhaltensformen extrem reduziert wird. Pferde zeigen uns aber an, daß sie zu mehr in der Lage sind als nur instinktgeleitet zu reagieren oder nur Verhaltensstereotypien zu zeigen.
Im folgenden soll versucht werden, dem Verhalten des Pferdes, das auf Einsicht, d.h. auf einem Wissen um das, was es tut, beruht bzw. Ausdruck dieser Einsicht ist, nachzugehen. Das Motiv für diese Untersuchung besteht darin, daß heutzutage ein reeller Umgang mit dem Pferd nur darin liegen kann, es in seiner gesamten Persönlichkeit wahrzunehmen. Hierzu gehört, daß wir nicht von vornherein den Pferden Einsicht und Intelligenz absprechen dürfen, wenn wir uns in diesem Punkt nicht ganz sicher sind.

Ich will versuchen, Antworten auf drei Fragen zu geben. Erstens: Was heißt einsichtsvolles Verhalten? Zweitens: Wie können wir ein solches Verhalten aufweisen? Drittens: Woran können wir erkennen, daß das Pferd verstanden hat, was es tun soll bzw. was es tut, und welche Konsequenzen ergeben sich daraus, daß wir merken, daß das Tier manche Dinge mit einer bestimmten Einsicht tut? Diese Fragen werde ich zunächst theoretisch beantworten (I). Hieran anschließend stelle ich zwei Fallbeispiele zweier unterschiedlicher Pferde vor (II). Abschließend gebe ich eine Zusammenfassung des theoretischen Gedankenganges und versuche, praktische Konsequenzen aufzuzeigen. Dabei nehme ich noch einmal die dritte Frage auf (III).

I Grundüberlegungen

Zur ersten Frage. Unter Einsicht soll ein situatives Wissen des Pferdes verstanden werden: das Pferd faßt die Situation, in er es sich verhält, in bestimmter Weise auf. Wir fassen das Verhalten des Pferdes als Ausdruck eines Verständnisses und einer Art Bewußtsein auf, und wir können das, weil das Tier in signifikanter Weise entweder auf bestimmte Umstände reagiert oder die Situation, in der es sich befindet, wesentlich bestimmt. Dabei setzt das Tier seine Fähigkeiten ein, um dieses oder jenes zu erreichen, diesem oder jenem auszuweichen, ein Problem zu lösen oder einen Konflikt zu meistern. Der Begriff von Einsicht, den ich hier verwenden will, unterscheidet sich von Intelligenz oder von einem intelligenten Verhalten, bei dem das Pferd bestimmte Erfahrungen mit der Wahrnehmung von etwas Neuem verknüpft, darin, daß er weiter gefaßt ist. Das Pferd nimmt gewissermaßen "auf einen Schlag" die gesamte Situation wahr, nicht nur einen Ausschnitt. Das schließt aber nicht aus, daß das Tier auch Einsicht zeigen kann in das, was es gerade macht. Im Gegenteil, das jeweils konkrete Verhalten führt uns zu der Annahme, daß es über eine die gesamte Situation umfassende Einsicht verfügt. Wenn z.B. ein Pferd den Stall wechseln muß und im neuen Domizil ankommt, ist es sicher etwas aufgeregt, beriecht es zunächst einzelne Gegenstände im neuen Hof oder nimmt zu seinen neuen Genossen Kontakt auf, grundsätzlich weiß es aber, daß es an einem anderen Ort ist. Das Riechen kann so nicht einfach nur ein beliebiges Verhalten sein, sondern dient der Erkundung dieses neuen Ortes. Zwischendurch wird es aber auch einmal den Blick in die Ferne schweifen lassen und gewinnt "auf einen Blick" einen Eindruck vom gesamten Hof.
Am jeweils situationsgebundenen Verhalten des Pferdes kann man also ablesen, was das Tier gerade beschäftigt, was es vorhat, was es will. Im Unterschied zu anderen Tieren, etwa Hunden, deren ausdrucksstarkes Mienenspiel uns augenfällig macht, was sie wollen, ist die Mimik der Pferde oft sehr fein und verharrt in Andeutungen. Wir müssen das jeweilige Pferd genauestens kennen- und einzuschätzen lernen, um uns Urteile über seinen Charakter, über seine Lernfähigkeit, seine Stärken usw. erlauben zu können. Es liegt an uns, das einsichtsvolle Potential eines Pferdes, und, was eng damit zusammenhängt, das kreative Potential eines Pferdes zur Geltung kommen zu lassen.
Zur zweiten Frage. Wir müssen versuchen, signifikante Situationen, in denen das Tier ein bestimmtes und beschreibbares Verhalten zeigt, von "Standardsituationen" zu unterscheiden, müssen dann versuchen, die Situation und das Verhalten des Pferdes wertneutral zu beschreiben, und haben dann die Aufgabe zu bewältigen, diese Beschreibungen zu interpretieren bzw. zu verstehen. So wenden wir die phänomenologische Methode an. Es geht nicht um meßbares Verhalten, sondern um phänomenologisch aufweisbares Verhalten. Die Tests etwa zur Messung von Intelligenz haben einen bestimmten Aufbau, der die Ergebnisse bestimmt, ein bestimmtes Problem soll gelöst werden, seine Lösung wird mit Futter belohnt. So wird getestet und bewertet, wie der Probant dem bestimmten und vorgegebenen Verhalten möglichst nahekommt. Demgegenüber wollen wir von den Pferden lernen, indem wir allererst bestimmte Verhaltensweisen als Ausdruck einer Einsicht auffassen wollen. Wir setzen zwar auch einige Fähigkeiten des Pferdes voraus, etwa sein sehr gutes und sehr spezifisches Erinnerungsvermögen, aber uns geht es nicht darum, das Verhalten des Pferdes auf bekannte Muster zu reduzieren. Denn es ist klar, daß erstens immer verschiedene Fähigkeiten des Pferdes zugleich auszumachen sein werden, und zweitens, daß oft das bestimmte situative Verhalten des Pferdes ausschließlich als Form instinktgeleiteten Verhaltens interpretiert werden könnte.
Wir orientieren uns an Fallbeispielen, die uns das Verhalten eines ganz bestimmten Pferdes in einer ganz bestimmten Situation vor Augen führen. Es um ganz konkrete Charakterstudien eines bestimmten Pferdes, die, wenn sie besonders signifikant sind, in einem zweiten Schritt Rückschlüsse auch auf andere Pferde zulassen. Ausgangspunkt müssen immer ganz konkrete Beobachtungen sein. So müssen wir uns an einem Schema orientieren, das die jeweilige Individualität des Tieres zur Geltung kommen läßt. Das Schema sieht folgendermaßen aus:
  • Anamnese: Geschichte des Pferdes: Aufzucht, Erziehung, Ausbildung etc. Dazu gehört auch die Beschreibung von In- und Exterieur.
  • Beschreibung der Situation und Beschreibung des Verhaltens des Tieres.
  • Deutung und Interpretation des Verhaltens.
  • Konsequenzen und Perspektiven für die künftige Arbeit mit diesem Pferd, mglw. auch mit anderen Pferden.
Zur dritten Frage. Sie wird am Ende des Artikels noch einmal aufgenommen werden, nachdem wir einige Beispiele diskutiert haben. Wichtig zur Beantwortung dieser Frage ist es zunächst, daß wir uns klar werden über die Voraussetzungen, die wir machen, wenn wir mit unseren Pferden arbeiten. Wir haben mit unseren Pferden eine bestimmte "Sprache" eingeübt, die es uns ermöglicht, mit den Pferden zu kommunizieren. Die Tiere sind dadurch natürlich geprägt und in ihrem Verhalten beeinflußt. Aber ihr Verhalten wird so von uns allererst erkennbar, und umgekehrt kann das Pferd, je differenzierter diese "Sprache" geworden ist, auch differenzierter reagieren.
Das Pferd hat gelernt, daß es für die Ausführung der Lektion belohnt wird. Da es gerne gelobt wird, führt es immer wieder diese Lektion aus. So orientieren wir uns in der Ausbildung des Pferdes daran, daß das Tier gerne gelobt werden will. Das heißt nun aber nicht, daß hiermit schon alles erreicht wäre. Das Tier kann sich nämlich auf verschiedene Weise dazu verhalten: sowohl zu der Lektion - durch die Art der Ausführung - als auch zum Gelobtwerden - durch die Art und Weise, wie es sich loben läßt. Hier müssen wir ansetzen, wenn es uns nicht nur darum geht, daß das Pferd die Lektion ausführt, sondern wenn es uns vor allem darum geht, wie und in welcher psychischen Verfassung das Tier die Leistung erbringt.
Wir sehen an bestimmten körperlichen Signalen - Schweifbewegungen, Ohrenspiel und Ohrenstellung, Mimik, Muskeltonus, Blick - worauf die Aufmerksamkeit des Pferdes sich richtet. Um nun klare Aussagen darüber zu treffen, daß das Tier über eine bestimmte Einsicht verfügt, müssen wir lernen zu bemerken, worauf konkret die Aufmerksamkeit des Tieres gerichtet ist. Das ist insbesondere für unsere Arbeit mit dem Tier wichtig, denn nur, wenn wir die volle Aufmerksamkeit des Tieres haben, können wir einschätzen, in welcher Weise das Tier an der Arbeit beteiligt ist. Das ist übrigens der Begriff von Dominanz, der der maßgebliche sein muß: wir sind dann dominant, wenn es uns gelingt, die volle Aufmerksamkeit des Tieres zu gewinnen und für die Dauer der Arbeit zu halten. Damit ist gesagt, daß wir uns zuerst nach dem Pferd richten müssen, damit es sich dann nach uns richten kann. Und wenn wir so vorgehen, dann merken wir, daß als Effekt unserer Arbeit sich das Tier uns zuwendet, jetzt aber nicht mehr bloß mechanisch, sondern es wendet sich uns "bewußt" zu, d.h. es fühlt sich in dem Rahmen, der durch die Hilfen, durch das Loben, durch die Lektionen gebildet wird sicher.
Ein wichtiger Aspekt muß noch genannt werden. Wenn wir versuchen, der Einsicht, zu der die Pferde fähig sind, nachzuspüren und mit dieser Einsicht weiterzuarbeiten, dann ist klar, daß wir auch ein von der Norm der Ausbildung (welche von der jeweiligen Reitweise und ihrer konkreten Realisierung abhängt) abweichendes Verhalten ernst nehmen müssen. Vorausgesetzt, das Tier ist physisch und psychisch dazu in der Lage, die geforderten Lektionen auszuführen und ist nicht bloß einfach renitent: dann müssen wir die Möglichkeit einer einsichtsvoll motivierten Abweichung annehmen. Z.B. gibt es für unterschiedliche Lektionen fast identische Hilfenkombinationen, so daß vor allem das junge Pferd die Hilfen "mißverstehen" kann und die andere Lektion zeigt. Hier kann man natürlich nicht sagen, daß das Tier renitent ist. Hier muß man sagen, daß der Reiter noch viel präziser und vor allem im richtigen Moment des Bewegungsablaufes die Hilfen geben muß, damit sie eindeutig beim Pferd ankommen. Ein anderes Beispiel. In der Literatur wird oft der Fall beschrieben, daß ein Pferd in eine andere Lektion ausweicht und dies auch absichtlich macht, nicht, weil es die Hilfen verwechselt, sondern weil es der anstrengenderen Übung ausweichen will. Empfohlen wird dann, das Tier in der Lektion, in die es geflohen ist, solange arbeiten zu lassen, bis ihm die Übung, vor der es anfangs geflohen war, als die leichtere erscheinen muß. Diese Empfehlung bedient sich einem Modell schwarzer Pädagogik, da nur mit negativen Alternativen gearbeitet wird: das Pferd lernt nur, daß es etwas nicht machen soll. Anders gesagt: zur Unlustvermeidung zeigt das Pferd am Ende das gewünschte Verhalten. Demgegenüber kann man aber in den meisten Fällen davon ausgehen, daß es einen bestimmten Grund für das abweichende Verhalten des Tieres gibt, als bloß die Stereotypie, sich nicht anstrengen zu wollen. In unserer Perspektive zeigt das Pferd, bei dem wir die Mitarbeit voraussetzen und auch als das eigentliche Ziel der Ausbildung ansehen, daß es die gewünschte Lektion noch gar nicht ausführen kann. Wenn wir dem Pferd folgen, so zeigt es uns den Weg, den wir beschreiten müssen. Oft ist es so, daß es gerade die Lektion, in die das Tier ausweicht, ist, in der es zunächst vorrangig gearbeitet werden muß, um dann die andere Lektion ausführen zu können. Im Unterschied zum Modell der schwarzen Pädagogik liegt der Akzent positiv auf der korrekten Ausführung der Lektion, in die das Pferd auswich, und als Resultat dieser Vorarbeit "springt" sozusagen die andere Lektion heraus. So entpuppt sich ein von unserer Seite angewendetes "verständigungsorientiertes" Verfahren, das auf den ersten Blick deckungsgleich mit dem anderen Verfahren, das ich schwarze Pädagogik genannt habe, erscheint, als ein ganz anderes weil anders motiviertes Verfahren.


II Phänomenologische Beschreibungen

Fallbeispiel 1: "Lilly"

(1) Lilly ist eine zehnjährige Warmblutstute (edles Warmblut DDR), im trockenen Trakehnertyp stehend. Die ersten vier Lebensjahre verbrachte sie auf dem Gestüt, hatte ein Fohlen. Kam dann in unerfahrene Hände und unzureichende Ausbildung. Entwickelte sich zu einem Puller und Durchgeher, war in Streßsituationen unberechenbar, was ihr und ihren Besitzern einige z.T. schwere Unfälle bereitete. Seit einigen Jahren wird mit Lilly behutsam und fachkundig gearbeitet, und ihre "Mängel" werden korrigiert. In ihrem Körperbau ist sie sehr unharmonisch, ein sehr langer Hirschhals kombiniert mit einem Karpfenrücken und einer im Verhältnis zur kleinen Kruppe sehr ausgeprägten Schulterpartie verleiten Lilly zu eiligen Bewegungen. Lilly hat ein großes Auge und steht oft "herrisch" da, sie ist sich ihrer Schönheit und Wirkung durchaus bewußt. Charakterlich zeigt Lilly hengstige Züge (sie hat Hakenzähne), sie ist von der Herde, in der sie lebt, sehr abhängig, sie kontrolliert "ob alle da sind", sie übernimmt aber keine weiteren Aufgaben in der Herde, sondern kümmert sich hauptsächlich um ihr eigenes Wohlergehen. Sie ist sehr eigenwillig, sehr schnell in ihren Reaktionen, langweilt sich bald in der Arbeit, ist allerdings auch rasch überfordert bzw. fühlt sich überfordert, läßt sich von Neuem begeistern, hakt Bekanntes dagegen allzu schnell als uninteressant ab, zeigt manchmal eine gewisse Ignoranz und Unbeteiligtheit. Sie "liebt" ihre Box, ist sehr gerne im Stall, Box an Box mit ihren "Freunden". Sie ist sehr stark personenabhängig, sie ist ein Ein-Mann-Pferd bzw. ein Ein-Frau-Pferd.

(2) Nach der Arbeit kommt Lilly in die Box, bekommt ihr Futter und trifft im Stall auf die anderen Pferde, mit denen sie die Herde bildet. Tagsüber sind sie zusammen auf dem Auslauf, auf dem Rauhfutter angeboten wird, nachts in der Box, um die Mittagszeit im Stall, um eine dritte Kraftfutterration zu bekommen. Nachdem Lilly das Futter verspeist und ein bißchen Heu gefressen hat, geht sie an die Boxentür und macht sich am Riegel zu schaffen. Die Tür ist zweigeteilt, die obere Hälfte ist geöffnet, die untere geschlossen und mit einem Riegel gesichert. Lilly geht mit Bedacht vor: sie wartet einen Moment, zieht dann mit den Lippen das Ende des Riegels hervor, das umgeklappt war. Wieder, wie überhaupt nach jedem Schritt, hält sie einen Moment inne, faßt dann das vorstehende Ende mit Lippen und Zähnen und schiebt den Riegel zur Seite. Das gelingt nicht sofort beim ersten Mal, dafür braucht sie mehrere Anläufe, was sie aber nicht im mindesten in ihrer Ruhe, mit der sie am Werke ist, stört. Schließlich ist der Riegel ganz zur Seite geschoben, die Tür bereits offen. Jetzt gibt Lilly der Tür mit ihrem Hals einen energischen Schubs, die Tür ist weitoffen, die Stallgasse liegt vor ihr. Sie geht zum Heu etwas weiter hinten in ihrer Box zurück und frißt weiter. Später geht sie in der Stallgasse umher, geht die anderen Pferde "besuchen". Sie wird später, nach der Mittagszeit, vom Personal bei offener Boxentüre in ihrer Box angetroffen.- An einem anderen Tag wurde das Pflegepersonal davon überrascht, daß es Lilly und vier andere Pferde auf der Stallgasse antraf. Offensichtlich hatte Lilly zuerst die Türe zu ihrer Box geöffnet, dann die Riegel zu den Türen der anderen Boxen aufgeschoben. Auf der Stallgasse herrschte zwar ein Durcheinander, aber in allergrößter Ruhe und Selbstverständlichkeit spazierten die Pferde hin und her.

(3) Lilly hat bislang in jedem Stall das Schloß ihrer Box "geknackt", immer müssen der Riegel und der Verschlußmechanismus zusätzlich mit einem Karabiner o.ä. gesichert werden. Auffallend ist, mit welcher Ruhe das ansonsten sehr nervige Pferd ans Werk geht. Wichtig ist hierbei, das Lilly sich gern im Stall und ihrer Box aufhält. Lilly hat einen Weg gefunden, sich die Zeit zu vertreiben, und hat zugleich einen Weg gefunden, sich mit dem Tatbestand des Eingesperrtseins auseinanderzusetzen. Lilly wußte, was sie tat, da sie nämlich die Folgen ihres Tuns vorwegnehmen konnte: sie weiß, daß sie auf die Stallgasse treten kann, wenn sie den Riegel zur Seite schiebt. Sie weiß dann auch, was es bedeutet, die Riegel der anderen Boxentüren zur Seite zu schieben: sie "befreit" die anderen Pferde (nicht alle, immer bestimmte, ihr liebe Tiere). Lilly kann also gewisse Planungen, die die nähere Zukunft betreffen, anstellen. Sie will offensichtlich die Situation, in der sie sich findet, aktiv selber gestalten und läßt zugleich andere daran teilhaben. Ihr intelligentes Verhalten drückt sich allein darin aus, daß es einer großen Ausdauer bedarf, um überhaupt den Mechanismus eines neuen Schlosses knacken zu können, ganz zu schweigen von der mit jedem Türöffnen verbundenen Anstrengung. Pferde sind ja allein auf die Flexibilität von Maul, Lippen und Zähnen angewiesen.

(4) Lilly ist insofern ein dominantes Pferd, als es die Situation, in der es sich vorfindet, selber gestalten will. Diesem kreativen Zug muß in der Arbeit Rechnung getragen werden, daß etwa die Regeln der klassischen Reitkunst nicht wie ein lebloses Korsett dem Tier angepaßt werden, sondern daß diese Regeln - ähnlich wie die sichere Box, deren Schloß sich von dem Pferd öffnen läßt, ohne daß sich das Tier bei geschlossener Tür in der Box eingesperrt fühlt - sozusagen in einer kreativen Phase des Tieres zur Anwendung kommen. In der Ausbildung müssen wir auf diese kreativen Momente Lillys bestimmend eingehen, wenn wir Lillys Persönlichkeit gewinnen wollen. Neben dem kreativen Potential dieses Pferdes und neben dem stark ausgeprägten Freiheitsverlangen, das auf einer Sicherheit, die Lilly in der Box findet, beruht, ist die räumlich bestimmte Wahrnehmung des Tieres hervorzuheben. Lilly kennt sich in "ihrem" Stall sehr gut aus. Im Unterschied zur allgemein bei Pferden anzusetzenden Raumwahrnehmung muß man bei Lilly aber bestimmte Raumerfahrungen annehmen, die dazu führen, daß sie selber ihren "Lebensraum", also den Ort, wo sie sich die meiste Zeit aufhält, strukturiert. Übertragen auf die praktische Arbeit mit Lilly hieße das etwa, daß ganz bewußt Übungen im Viereck verlangt werden, die dieses Dressurviereck als einen von anderen Stellen deutlich unterschiedenen Raum gestalten. Es kommt darauf an, die Aufmerksamkeit auf eine bestimmte Raumerfahrung zu lenken. Daß kann so erfolgen, daß in jeder der vier Ecken zunächst unterschiedliche Lektionen verlangt werden, so daß Lilly diese vier Ecken mit verschiedenen Übungen verbindet, dadurch eben auch die verschiedenen Ecken unterscheiden kann. Es geht darum, daß das Pferd bewußt wahrnimmt, wo es ist. Wenn es weiß, wo es ist, und wenn es sich dort wohlfühlen kann, also mit dem Viereck keine unangenehmen Erfahrungen verknüpft oder nicht durch unklare Hilfengebung irritiert wird, dann kann das Pferd persönlich engagierter und beteiligter mitarbeiten, kann sich freier darstellen, wird in gewisser Weise selbständig. Wenn wir uns diese Perspektive zu eigen machen, dann können wir gerade auch Pferde, die sich in der Reitbahn verkrampfen und entweder zu schnell oder zu langsam gehen, wieder für die Arbeit gewinnen.


Fallbeispiel 2: "Braune"

(1) Die vierzehnjährige braune Traberkreuzungsstute ist sehr stark überbaut, hat einen kurzen Hals, ist kurz und fest gefesselt, vorne etwas rückständig, allgemein hat sie ein schlechtes Fundament, hat eine schlechte Oberlinie, eine Karpfenniere und eine abgeschlagene Kruppe. Biologisch ist sie leider weit über vierzehn, am deutlichsten sieht man dies an der Arthrose im linken Vorderfußwurzelgelenk. Vermutlich ist sie bereits als Zweijährige neben ihrer (hysterischen) Mutter vor dem schweren Wagen gegangen, wurde frühzeitig lahm, ging dann durch mehrere Hände, entwickelte sich zum Durchgänger. Nach konsequenter korrigierender Arbeit - zu ihren körperlichen Defiziten kommt ein sehr schwieriges Temperament, das durch sehr schlechte Behandlung leider wesentlich mitbestimmt wurde - zeigt sie, daß sie ein sehr gutes und talentiertes Reitpferd hätte werden können. Sie faßt sehr schnell auf, ist aber grundsätzlich dem Menschen gegenüber skeptisch, dann manchmal überschäumend freundlich und interessiert, läßt sich selten wirklich für die Arbeit begeistern. Sie ist sehr eigenwillig, zeigt deutlich, was ihr gefällt und was sie nicht will. Sie ist vom Naturell ein sehr ängstliches Pferd, das in der Herde eine Position eines "second leader" einnehmen will. In aus ihrer Sicht bedrohlichen Situationen läßt sie gerne deutlich unter ihr stehende Herdenmitglieder vorgehen, um dann, nachdem der Weg freigemacht ist, sich wie diejenige, die ihn freigemacht hat, aufzuspielen. Innerhalb der Herde allerdings geht es ihr vorrangig darum, echte Freundschaftsbeziehungen zu pflegen, die gesamte Herde ist ihr viel weniger wichtig als die Freundschaft zu ganz bestimmten Pferden. Als ängstliches Pferd ist sie vielleicht stärker als andere Pferde von der Sicherheit abhängig, die sie in der Herde findet.

(2) Für eine Woche muß die Braune alleine in der vertrauten Offenstallanlage bleiben, "ihre" Herde geht auf einen Wanderritt. Als sie merkt, daß alle weggehen und sie alleine auf dem Auslauf verbleibt, steht sie, wiehernd und ziemlich unruhig, an der Stelle, von der aus sie die weggehenden Genossen noch am längsten sehen kann. Sie beruhigt sich, bleibt wie angewurzelt stehen. Kurze Zeit später, nachdem sie keinen mehr sehen kann, rennt sie zunächst im Auslauf hin und her, wobei nicht zu sehen ist, ob sie ein bestimmtes Ziel damit verfolgt. Plötzlich rennt sie mit großer Geschwindigkeit quer über den Auslauf auf die Weide ans äußerste Ende, von wo aus sie nicht in die Richtung schauen kann, in die ihre Genossen verschwunden sind. Sie rennt wieder zurück und rennt systematisch alle Stellen des verwinkelt angelegten Auslaufes ab, zuletzt geht sie aufgeregt aber gesetzt im Schritt den Unterstand ab, dessen drei Seiten nicht von jeder Stelle des Auslaufes her eingesehen werden können. Auf einmal ist sie außer sich, erschrickt vor einem Ast, der ihr im Schweif hängenbleibt, und rennt vor ihm weg. Aber der "Verfolger" läßt sich nicht abschütteln, sie rennt, bis sie schweißnaß ist. Sie kommt auf einmal zur Ruhe, steht pumpend und schwer da, der Ast löst sich von selbst und fällt aus dem Schweif. Davon nimmt sie kaum merklich Notiz, stattdessen wird sie wieder sehr unruhig, schmeißt sich hin, wälzt sich, steht wieder auf, schmeißt sich wieder hin, steht wieder auf. Zuletzt stellt sie sich wieder an der Stelle auf, von der sie den weggehenden Genossen ein letztes Mal nachsehen konnte. So wacht sie fast die ganze Nacht. Die nächsten Tage allerdings wählt sie einen anderen Platz, offensichtlich den sichersten Platz in dieser Anlage: mit dem Schutz des Offenstalles im Rücken der Blick auf die gesamte Anlage. Allerdings kann sie nicht in die Richtung schauen, in die ihre Freunde verschwunden waren. Ab und zu kommt es vor, daß sie einen "Rundgang" macht, sie kommt dann an besagter Stelle vorbei, nimmt dann aber wieder ihren sicheren Platz ein.

(3) Offensichtlich hat die Braune ihre Freunde gesucht. Dafür spricht, daß sie später nicht mehr alleine auf die Weide gegangen ist. Ich habe sie auf die Weide geführt, damit sie zum Fressen kam, sonst wäre sie nicht hingegangen und hätte eben ihr Stroh gefressen. Interessant ist auch, daß ihre systematische Suche von deutlichem Streß- und Übersprungsverhalten begleitet wurde. Das Hinschmeißen und Aufstehen ist zudem ein deutliches Zeichen ihres "Ärgers", nicht zu bekommen was sie will. Daß sie sich vor dem Ast in dieser Weise erschrecken konnte, zeigt m.E. ihre große innere Angespanntheit und Ungeschütztheit an, denn sie hätte in einer anderen Situation, wenn sie mit ihren Freunden zusammen auf dem Auslauf gewesen wäre und sich ein Ast in ihrem Schweif verfangen hätte, vermutlich "cooler" reagiert. Hieran müssen wir uns merken, daß sie in einer bestimmten Stimmung sein muß, um planvoll reagieren zu können.
Weiterhin zeigt die Stute deutlich an, daß sie über die Erfahrung der Grenzen der Offenstallanlage verfügt. Diese räumliche Erfahrung ist deswegen eine Erfahrung, weil die Braune ihr Wissen über die räumlichen Gegebenheiten der Anlage dazu nutzt, ihre Freunde zu suchen bzw. sich Gewißheit darüber zu verschaffen, daß sie nicht auf der Anlage sind.
Zuletzt ist das zeitliche Erleben des Tieres bemerkenswert. Die Stute wartet auf ihre Freunde. Zwar zeigte sie gegenüber dem oben beschriebenen auffälligen Verhalten kaum eine Reaktion, als ihre Freunde wiederkamen. Aber da schien es, als ob über das Selbstverständliche kein Aufhebens gemacht zu werden braucht: als alle wieder da waren, war "die Welt wieder in Ordnung", worüber "kein Wort" verloren zu werden brauchte.

(4) Die von anderen Pferden sehr abhängige Stute muß sich in der Arbeit annähernd so sicher wie in der Herde fühlen. Sie ist auch immer wieder in der Zwickmühle, ob sie sich wirklich auf die Arbeit konzentrieren oder doch lieber nach ihren Freunden schielen soll. Dabei ist es nicht so, daß sie den Reiter ignoriert oder einfach nur frech ist und erst gar nicht mitmachen will. Vielmehr ergibt sich der Eindruck, z.B. bei Ausritten, daß sie irgendwie annimmt, es könnte so sein, daß sie wiederkommt und keiner ihrer Freunde ist mehr da. Dieses Verhalten war nach dem oben beschriebenen Ereignis verstärkt zu beobachten. In der Arbeit kam es also jetzt darauf an, daß sie versteht, daß sie sich sicher sein kann, ihre Freunde wieder anzutreffen. Wenn sie sich hierüber sicher ist, dann kann sie auch ihre ganze Aufmerksamkeit der Arbeit widmen. Ich habe sie also zunächst planmäßig, später beiläufig deutlich von den anderen weggenommen, z.B. von den anderen wegtraben lassen, habe dann etwas verlangt, das ihre ganze Aufmerksamkeit verlangt, etwa Biegungen in schwierigem Gelände, und bin dann abgestiegen, um sie gemütlich und betont gutgelaunt nach Hause zu führen. War sie angespannt, beachtete ich das gar nicht. Zuhause angekommen, führte ich die ritualisierte Nachversorgung des Pferdes (Anbinden, Absatteln, Kopfstück abnehmen, Putzen etc.) wie gewohnt aus, aber ließ mir dabei keine unnötige Zeit. Dann führte ich sie direkt in den Auslauf zu ihrem Freund, wobei ich sie hinter mir her gehen ließ, und entließ sie beiläufig. Das habe ich zwei Wochen lang, einmal sogar mehrmals hintereinander gemacht, bis ich den Eindruck hatte, daß das Tier verstanden hat, daß ich sie zu den anderen wieder zurückbringe. Jedenfalls hatte ich nach dieser Zeit wieder deutlich die volle Aufmerksamkeit des Tieres in der Arbeit.
Wichtig war bei diesem Vorgehen, daß ich die Braune hinter mir her gehen ließ; denn ich mußte drei Dinge miteinander verbinden, ohne daß das Tier notwendig den Eindruck gewinnen mußte, ich beeile mich nur, seinem Willen nachzukommen. Erstens nämlich biete ich, indem ich vorgehe und die Braune in meiner Spur folgt, dem Tier einen Schutz gerade in einer Situation, in der es sich schutzlos fühlt. Zweitens bin ich derjenige, der initiativ ist, denn ich will zwar in der Arbeit, zu der ich das Tier gewinnen will, auf seine Bedürfnisse eingehen, aber ich darf natürlich nicht die Anforderungen vergessen, die wir notwendig dem Tier stellen müssen, wenn wir reell arbeiten wollen. Drittens schließlich zeige ich dem Pferd, wenn ich es betont zu seinem geschätzten Herdengenossen zurückbringe, daß ich verstanden habe, was sie gerade will und braucht. Ich glaube, daß sie mir dies honoriert hat.


III Zusammenfassung: Konsequenzen für unseren Umgang und unsere Arbeit mit dem Pferd

Unsere Ausgangsüberlegung lautete: Da wir nicht immer sicher sein können, daß wir das Verhalten eines Pferdes in jeder Situation angemessen verstehen, müssen wir grundsätzlich davon ausgehen, daß wir noch nicht genug verstehen. Das bedeutet, daß wir uns methodisch beschränken müssen auf das, was wir gesichert verstehen, und zugleich offen sein müssen für das, was wir nicht verstehen. Damit wir beides leisten können, müssen wir uns über die Voraussetzungen klar sein, die wir im Umgang mit den Pferden machen. Das sind Voraussetzungen, die in unserer Persönlichkeit liegen, in unserer reiterlichen und sonstigen Bildung, das sind Voraussetzungen, die in der jeweiligen Reitweise liegen, die wir praktizieren. Wenn wir nun unsere Voraussetzungen kritisch prüfen und die Hinweise, die wir von den Pferden bekommen, zu verstehen lernen, können wir der Einsicht, derer die Pferde fähig sind, einen Spielraum gewähren. Das heißt nicht, daß wir uns tradierter und in der Ausbildung bewährter Muster nicht bedienen würden, mit denen wir nämlich allererst die Basis dafür schaffen, daß wir "eine gemeinsame Sprache" mit den Pferden sprechen können. Der Akzent liegt so nicht so sehr darauf, tradierte Muster korrekt zu reproduzieren, sondern sie durch das Verhalten der Tiere kritisch zu reflektieren. Eine Absage muß solchen Dogmen erteilt werden, die davon ausgehen, es gebe einen einzigen und mehr oder minder "selbstverständlichen", "ursprünglichen" Weg, mit Pferden zusammenzuarbeiten. Entscheidend bleibt, zunächst unabhängig von der gewählten Reitweise, daß das Tier an der Leistung, die es erbringen soll, verstehend beteiligt ist. Dann kann es sich "als Reitpferd verstehen", kann es freudig mitarbeiten, will es mitarbeiten. - Wir dürfen natürlich unser Pferd nicht überfordern, sondern wir müssen versuchen, uns nach den Begabungen unseres Pferdes zu richten.
Praktische Konsequenzen gibt es viele; sie bemessen sich daran, wie wir es schaffen, auf die intellektuelle Entwicklung des Pferdes genauso viel Sorgfalt zu verwenden wie beispielsweise auf seine körperliche Entwicklung. Wir bedienen uns keiner "Tricks" in der Ausbildung, d.h. spielen mit offenen Karten, versuchen transparent zu machen, was wir als nächstes vom Pferd verlangen werden. Wir müssen uns nicht in jeder Situation immer wieder "durchzusetzen", wenn das Pferd nicht das macht, was wir wollen. Man sieht oft Reiter, die immer und immer wieder ein Pferd gegen ein Hindernis reiten, das es immer wieder verweigert. Die Reiter, von der Auffassung beherrscht, daß das Pferd mindestens einmal diesen Sprung nehmen muß, damit es sich nicht merkt, daß es sich des Springens durch einfaches Verweigern entledigen kann, setzt durch sein Bestehen auf einer Forderung, die das Pferd zumindest jetzt nicht erbringen kann, sein ganzes Verhältnis zu dem Tier aufs Spiel. Wenn man spürt, daß das Tier will, aber nicht kann, muß man die Lektion abbrechen und sich am nächsten oder übernächsten Tag mit neuer Kraft wieder an die Aufgabe wagen. Das Pferd wird einem diese Entscheidung honorieren, denn es nimmt wahr, daß wir auf es eingegangen sind, daß wir es ernst nehmen, da wir einfach unterstellen, daß das Tier mehr wahrnimmt als nur das, was wir der Einfachheit halber nur allzugern bereit sind anzunehmen, daß nämlich das Pferd nur den Sprung und das Verweigern im Kopf hat.
Wir versuchen, das Loben und das Belohnen des Pferdes strikt von der Strafe und der Bestrafung abzukoppeln. Wir kommen ohne Strafe aus, denn nur nach Maßgabe eines überholten Dominanzbegriffes, der das Verhältnis zwischen uns und dem Pferd regelt, kann uns Strafen gestattet sein. Dieser einseitige Begriff von Dominanz lehrt, daß der Reiter immer und in jedem Falle der Ranghöhere sein muß. Der Reiter muß also immer daran denken, daß er um jeden Preis seine Position halten muß, und so meint er auch, in bestimmten Situationen das Pferd strafen zu müssen, da er sonst seine Position verlieren würde. Unsere Dominanz dagegen liegt darin, aufgrund unserer Autorität die Aufmerksamkeit des Tieres nicht nur für einen Moment zu gewinnen, sondern zu erreichen, daß das Tier sich von sich aus uns zuwendet und uns seine Aufmerksamkeit ständig gibt. Wir fordern natürlich diese Aufmerksamkeit, sind dabei insofern ranghöher, als bei uns "die Musik spielt". Jedoch müssen die wir die Äußerungen, Verhaltensformen und Hinweise des Pferdes immer auch als Kritik an unserer Arbeit verstehen. Wir wiegen uns niemals in einer falschen, selbstgerechten Sicherheit dem Tier gegenüber, deren Auswüchse etwa in der Meinung manifest werden, wonach der Reiter das Recht hätte zu strafen oder gar "abzustrafen".
Abschließend will ich versuchen, einige Antworten auf unsere eingangs genannte dritte Frage zu geben: Wie können wir nun erkennen, ob das Pferd versteht, was es tut, getan hat oder tun soll?
Bislang hatten wir gesehen, daß es darauf ankommt, einzuschätzen, inwieweit wir fähig sind, die Voraussetzungen, die wir im Umgang und in der Arbeit mit Pferden ständig und selbstverständlich machen, daraufhin zu überprüfen, ob sie dem Pferd die Möglichkeit zu intellektueller Entwicklung lassen. Wenn dies der Fall ist, muß zweitens unser Interesse hinzukommen, das Pferd in seiner gesamten Persönlichkeit wahrzunehmen. Wenn auch dies der Fall ist, so können wir nach und nach Aussagen darüber machen, ob das Tier sich auch intellektuell verändert. Am deutlichsten wird man, wie oben schon kurz erwähnt, eine solche Entwicklung dort wahrnehmen, wo das Pferd seine Meinung zum Loben bzw. Gelobtwerden ändert. Wenn wir wahrnehmen, daß unser Pferd sich eines Tages anders loben läßt als sonst, oder sich gar nicht loben lassen will, oder manchmal das Lob und möglicherweise eine Belohnung geradezu fordert (ohne zu betteln), dann sind wir gehalten, auf die Art und Weise zu achten, wie das Tier die Lektion ausführte, für die es sozusagen selber die Art des Lobes bestimmt. Wir stellen also vor allem an der veränderten Haltung des Tieres gegenüber bekannten Aufgaben fest, daß es sich eben auch intellektuell verändert. Äußeres Anzeichen dafür ist die Mimik des Pferdes, die individuell z.T. völlig unterschiedlich ist. Allerdings sind das weiche, kauende Maul, das "Zungenlecken", wobei das Tier mit der Zunge über die Oberlippe fährt, die einerseits sehr lebhaft in Bewegung nach allen Seiten befindlichen, andererseits in einer gewissen "Trance" völlig hingegebenen Ohren manifeste Anzeichen einer inneren Haltung des Tieres, in der es eben auch zu intellektuellen Leistungen fähig ist.
Solche intellektuellen Leistungen, die sich in der Herde oder während der Arbeit mit dem Pferd einstellen, beruhen aber auf einer grundsätzlichen Flexibilität des Pferdes, sowohl was seinen Körper als auch was seine mentale Verfassung betrifft. Wir sind gezwungen, uns damit auseinanderzusetzen, daß die Pferde als ausgesprochene Gewohnheitstiere - weswegen sie im übrigen auch, was die Geschichte lehrt, ausgebeutet werden konnten - sehr schnell in unproduktive Gewohnheiten verfallen können. Dagegen müssen wir vorgehen, etwa, indem wir beobachten und vorwegnehmen, welches Verhalten von welchem Pferd in eine stereotype Verhaltensweise verwandelt werden wird, vor allem aber dadurch, daß wir im Umgang mit dem Pferd auf eine größtmögliche Abwechslung (natürlich ohne das Tier durch zu große Abwechslung zu irritieren) Wert legen. Das kann schon mit dem jungen Pferd beginnen, etwa, indem wir behutsam von dem jungen Pferd durchaus schon Ansätze schwierigerer Übungen und Lektionen verlangen, die seinem Ausbildungsstand eigentlich noch nicht entsprechen. Das Tier hat dann schon eine Ahnung davon, was es später, wenn es gereift ist, ausführen kann, statt als "gestandenes" Pferd auf einmal "aus allen Wolken zu fallen".
Angesichts des langen Weges, den ein Pferd vom Fohlen bis zum erwachsenen Pferd zurücklegt - die Persönlichkeit des Pferdes ist, natürlich mit individuellen Abweichungen, mit sechs bis acht Jahren, bei spätreifen Rassen aber durchaus auch später gefestigt - haben wir genug Zeit, nach und nach das Wesen, den Charakter, das Temperament, das intellektuelle Engagement unseres Pferdes kennenzulernen, um auf seine Begabungen eingehen zu können. Das gilt in abgewandelter Form natürlich auch für ältere Pferde, deren Persönlichkeit schon vielfache Prägung erfahren hat und deren Stolz oft wiedergewonnen werden muß.